Ressourcenschonend bauen, ressourcenschonend und gemeinschaftlich leben – das sind die Ziele der Organisation „Urbane Dörfer“. Zehn Menschen, darunter eine Betriebökonomin, ein Geograf und ein Architekt, treffen sich jede Woche, um bestehende Projekte und neue Ideen voranzutreiben. Sie wollen sowohl leerstehende Gebäude nutzen als auch Neubauten realisieren, und vor allem möchten sie Dorfgemeinschaften schaffen, in denen sich jeweils etwa 150 Menschen jeden Alters wohl und getragen fühlen. All die Kleinfamilien in ihren Wohnungen, all die Senior*innen, abgeschnitten von den anderen Generationen, und all die Personen, die allein leben möchten, und es dennoch geniessen, sich dazuzugesellen, wenn auf dem Dorfplatz etwas läuft, sollen ein Zuhause finden. Zahlreiche Projekte sind bereits in Entwicklung, darunter zwei ebensolche Urbane Dörfer in Zollikofen und Gümligen bei Bern. Ich habe mit den beiden „Dorfpionier*innen“ Andrea Burkhalter und Matthias Tobler gesprochen. Ihre Arbeit habe ich schon sehr lange von Weitem verfolgt, weil sie im gleichen Coworking Space tätig sind – Matthias ist Initiator sowohl von diesem Space als auch von der Idee der Urbanen Dörfer.
Andrea: jenseits von baulichen oder finanziellen Grenzen – wie läuft ein idealer Tag im idealen "Urbanen Dorf" ab?
Andrea: Am Morgen gehe ich auf den Dorfplatz. Dort treffe und grüsse ich Menschen verschiedener Generationen und kaufe im Dorfladen etwas ein. Im Erdgeschoss gehe ich arbeiten, es gibt dort Atelierwohnungen. wo auch Künstler*innen und Kleingewerbe angesiedelt sind, und Platz für Coworking. Wenn ich hochschaue, sehe ich Kinder draussen spielen, die Fassaden sind grün, es wachsen verschiedene Pflanzen und es sind viele Vögel zu hören. Zum Mittag treffe ich mich mit anderen auf der begrünten Dachterrasse. Am Nachmittag ziehe ich mich in meine eigenen vier Wände zurück und arbeite dort weiter.
Und bei dir Matthias – wie würde ein Tag ablaufen, an dem du deine Kinder betreust?
Matthias: Am Morgen würde ich mein älteres Kind in die Schule bringen und mich dann mit dem jüngeren Kind und anderen Eltern zum Znüni treffen. Wir würden uns spontan verabreden, zusammen mit zwei anderen Familien Zmittag zu essen, und draussen den Grill anwerfen. Am Nachmittag würde ich allein mit den Kindern in den Wald gehen, und auf dem Heimweg ein bisschen von unserem Gemüse ernten. Am Abend wäre zum Beispiel eine interessierte Gruppe Menschen zu Besuch, die wissen möchten, wie das Urbane Dorf funktioniert. Mein Sohn würde ihnen von seinem Alltag erzählen, und ich würde dann noch ein bisschen ergänzen.
Ich weiss, dass ihr schon lange am Thema dran seid, dass ihr schon sehr viel recherchiert und aufgegleist habt. Spürt ihr eine Sehnsucht, dass ihr bald in ein Urbanes Dorf einziehen könnt?
Matthias: Ja, definitiv! Es ist mehr als eine Sehnsucht, es ist fast ein Schmerz. Darum sind wir auch so engagiert. Natürlich würden wir persönlich gerne an so einem Ort wohnen, aber wir glauben auch, dass es gesellschaftsrelevant ist. Es ist wichtig, dass wir uns überlegen, wie wir leben wollen. Wir bewegen uns natürlich in einem Umfeld mit sehr langsamen Prozessen. Aber wir möchten einfach Ausgangslagen schaffen, damit später möglichst viele Menschen davon profitieren können.
Andrea: Ja, diese Sehnsucht spüre ich auch. Ich glaube, dass wirkliche Veränderung nur mit der Zivilgesellschaft zusammen stattfinden kann. Wir leben viel zu ressourcenintensiv, wir brauchen drei Erden in der Schweiz. Zudem ist unsere Gesellschaft sehr stark fragmentiert. Die verschiedenen Generationen kommen nicht miteinander in Austausch. Ich möchte nicht mehr warten! Ich möchte mich engagieren für einen anderen Lebensstil.
Urbane Dörfer sollen möglichst ressourcenschonend sein. Was bedeutet dies für euch?
Matthias: Da spüren wir eine hohe Dringlichkeit. Unser Ressourcenverschleiss ist riesig! Ich glaube, dass wir nicht über Nachhaltigkeit nachdenken können, ohne über Gemeinschaft nachzudenken. Wir kommen nicht in einen nachhaltigen Lebensstil, wenn wir nicht Sachen miteinander teilen. Es braucht ein Umdenken, und das muss von den Nutzer*innen kommen. Dann wird es auch die Baubranche prägen.
Andrea: Unsere Vision ist es, regenerative Lebensräume zu schaffen. Bei einem klassischen Bau schaut man den Energieverbrauch an – weniger Verbrauch ist super, klar, aber wir möchten einen Schritt weiter gehen in Richtung ganzheitlich suffizienten Lebensstil. Es geht um den ganzen Lebenszyklus des Baus. Und es geht um die Menschen: wie leben sie, woher kommt ihr Essen, wie ist ihre Mobilität, was ist mit Biodiversität im städtischen Raum?
In den Grundsätzen des Effingers, den du, Matthias, mitgegründet hast, zitiert ihr einen Auszug aus der Bundesverfassung: “Die Stärke des Volkes misst sich am Wohl der Schwachen.” Trifft dies auch auf ein Urbanes Dorf zu? Kann ein Urbanes Dorf für alle da sein?
Matthias: Wir brauchen uns gegenseitig. Wir brauchen ein Miteinander! In allen Projekten versuchen wir schon früh herauszufinden, wie wir Generationen zusammenbringen können, wie wir Pflegeheimplätze anbieten könnten zum Beispiel. Wir arbeiten mit Partner*innen zusammen, wenn es um bestimmte bauliche Massnahmen geht.
Andrea: …mit Pro Senectute zum Beispiel. In urbanen Dörfern soll es Wohnungen geben, die auf individuelle Bedürfnisse angepasst werden können, so dass sie barrierefrei werden.
Matthias: In allen Nutzungskonzepten von neuen Siedlungen steht: „wir bauen für Familien“. Dabei sagen 30% der Menschen in der Schweiz, sie fühlen sich einsam. Es ist eine Zerbrochenheit da in der Gesellschaft, Beziehungen und Familien werden auseinandergerissen. Wir denken darüber nach, in Urbanen Dörfern temporäre Orte zu schaffen für Lebensübergänge, die schwierig sind – wenn sich ein Paar trennt zum Beispiel. Als Gemeinschaft könnte man es ermöglichen, einer solchen Familie zeitweise eine zweite Wohnung zur Verfügung zu stellen, und sie aufzufangen, damit sie sich nicht so allein fühlen.
Ich habe lange in der Prävention gearbeitet. Dort spricht man vom Präventionsparadox – und meint damit die Tatsache, dass die gutgemeinten Botschaften der Prävention oft nur die erreichen, die sowieso schon gut informiert sind. Die Schere geht so immer weiter auf. Wie ist es bei euch – sind Urbane Dörfer Eliteprojekte?
Matthias: Aus diesem Grund versuchen wir jeweils schon früh mit verschiedenen Organisationen zusammenzuarbeiten. Im Rahmen der Entwicklung eines Nutzungskonzepts für ein leerstehendes Gebäude haben wir Workshops mit 50 Leuten gemacht. Jemand sagte, eine Bibliothek wäre doch toll! Worauf jemand anderes zu bedenken gab, dass viele Menschen, die er kenne, eine Bibliothek eher nicht betreten würden – und ob man Bücher nicht stattdessen im Treppenhaus aufstellen könnte, damit das Angebot niederschwelliger würde. Ob ein Urbanes Dorf ein Eliteprojekt wird, kommt auf das Ziel an. Wenn es nur darum geht, für sich selber perfekte Lebensumstände zu schaffen, dann möglicherweise schon. Wenn man aber sagt, wir haben nicht nur einen internen Sinn, sondern auch einen externen, dass wir nämlich gesellschaftsrelevant sein möchten, geht man mit offeneren Augen, Ohren und Herz durchs Leben, und überlegt sich, wie so ein Dorf verschiedenen Menschen und Gruppen offen stehen könnte.
Andrea: Ganz praktisch und konkret: schlussendlich ist es ja eine Frage der Mietpreise. Wir möchten nach Kostenmiete bauen. Es gibt Anlagenrichtlinien vom Bundesamt für Wohnungsbau – diese wollen wir unterschreiten. Es soll kein Luxuswohnen geben, sondern ein Wohnen, das sich jede und jeder leisten kann.
Matthias: Im Idealfall möchten wir Gebäude selber besitzen oder in Globalmiete übernehmen, so dass wir einen Teil der Wohnungen noch einmal günstiger anbieten können. Die 120 - 150 Menschen, mit denen wir jeweils rechnen, sind genügend viele, dass man solche Angebote machen könnte.
Ihr habt es mehrmals angetönt: ihr möchtet möglichst viele Perspektiven berücksichtigen, möglichst viele Meinungen hören. Hat sich eure Vorstellung des Wohnens in der letzten Zeit dadurch auch verändert – oder habt ihr euch gar selber verändert?
Matthias: Wir setzen uns mit Individualität auseinander, mit Würde, mit Gleichwürdigkeit, mit dem Nord-Süd-Gefälle, und so weiter. Wir versuchen herauszufinden: wie lässt es sich gut leben? Diese bewusste Auseinandersetzung prägt mich schon sehr stark.
Häufig hört man bei Wohnexperimenten, ähnlich wie ihr sie plant, dass es irgendwann menschelt und kriselt, und dass alle enttäuscht sind. Denkt ihr ein solches Szenario von Anfang an mit? Ist zum Beispiel ein*e Psycholog*in im Team, oder ein Coach?
Andrea: Definitiv. Wir experimentieren mit Umgang mit Spannungen, wir bringen sie aufs Tapet, und versuchen sie früh zu lösen. Es gab bereits jetzt schon Konflikte. Aber das gehört dazu. Es geht darum, den Umgang damit jetzt schon zu lernen.
Matthias: Und dann, im Urbanen Dorf, ist es gut möglich, dass wir jemanden beiziehen. Vielleicht definieren wir schon von Anfang an, wen man in einer Krise kontaktiert, damit man nicht erst dann mit der Suche anfangen muss. Solche Gefässe wird es brauchen. Spannungen werden kommen, das ist klar! Meine grösste Angst ist es, dass sich die Leute entziehen. Wenn Leute bereit sind, über Schwierigkeiten zu sprechen, weil man früh genug damit anfängt, wird man es schaffen. Ausweichen ist schwieriger.
…bis es irgendwannn explodiert.
Matthias: Ja. Das Risiko schwingt mit – wir können nicht eine heile Welt versprechen. Ich denke manchmal, dass die Gemeinschaft nicht ein Wert ist – sondern der Preis. In der Gemeinschaft liegt ein Geheimnis. Sie wird uns alle viel kosten, aber es ist so viel Schönes darin verborgen. Es wird sicher Urbane Dörfer geben, in denen Dinge scheitern. Wir möchten aber nicht davor Angst haben – sondern es trotzdem wagen!