Seit fast 50 Jahren ist Edwin Zeiter Dorfpräsident von Bister, einem winzigen Dorf im Wallis. Er ist für sehr vieles im Dorf verantwortlich, von der Schneeräumung vor dem Gemeindehaus bis zur Zusammenstellung der Wahlkuverts, um nur zwei Beispiele zu nennen. Zusammen mit seiner Frau und den beiden Töchtern kümmert er sich zudem um den eigenen Hof mit reinrassigen Walliser Schwarzhalsziegen.
Sowohl er als auch seine Frau Ruth sind auch Künstler. Er ist Maler, und sie kreiert Installationen aus Wolle, Filz und anderen natürlichen Materialien aus der Umgebung. Sie hat zudem ein Buch geschrieben, in dem sie die Lebensgeschichte ihres Mannes erzählt. Dass es dafür ein ganzes Buch braucht, wird mir schon bei der Recherche klar – beim persönlichen Gespräch aber umso mehr. Zu hausgemachtem Sirup tauschen wir uns an einem sonnigen Morgen im Herbst 2023 zu dritt und später zu zweit über die Arbeit, die Familie und die Kunst aus.
Über Bister
„Meine Frau wurde in Bister geboren. Ich komme aus dem Goms. Als wir zu karisieren begannen [miteinander zu gehen], gab es hier noch nicht einmal eine Strasse, ich bin immer hinaufgewandert (lacht). Nach unserer Heirat beschlossen wir uns hier niederzulassen, und kurz darauf, mit 23, wurde ich Dorfpräsident.
Aktuell leben 38 Menschen in Bister. Früher gab es viele Landwirte, nun gibt es nur noch uns und eine weitere Familie. Bei uns leben zum Beispiel Lehrerinnen und Lehrer, Krankenschwestern, ein Mechaniker, ein Schreiner, ein Journalist.
Die Gemeinde verfügt über kein Kulturbudget. Aber meine Frau und ich organisieren ab und zu kulturelle Veranstaltungen wie Ausstellungen, Lesungen oder Konzerte, die wir selbst bezahlen.“
Wie es ist, Dorfpräsident zu sein
„Bister ist strukturell eine Gemeinde wie keine andere in der Schweiz. Wir haben kein Büro mit offiziellen Öffnungszeiten, aber man kann mich jederzeit anrufen. Das würde heute wohl niemand mehr auf sich nehmen, aber ich habe mich daran gewöhnt.
Nächstes Jahr wird jemand das Amt übernehmen. Ich kann es kaum erwarten! Obwohl ich gerne arbeite, freue ich mich darauf, nicht mehr achtzig Stunden pro Woche arbeiten zu müssen. Es wird das erste Mal in meinem Leben sein. Auch während meines Lehramtsstudiums habe ich in jeder Semesterpause im Stollen gearbeitet, und als Lehrer arbeitete ich Vollzeit und kümmerte mich am Wochenende um die Belange der Gemeinde.“
Was in einem Notfall passiert
„Vor zwei Jahren kam eine Lawine und wir waren eine Woche lang von der Welt abgeschnitten. Weil die Kantonsstrasse betroffen war, übernahm der Kanton die Räumung. Für Situationen wie zum Beispiel den Waldbrand in Bitsch vor ein paar Wochen [Die verbrannten Bäume sind von Bister aus gut sichtbar] haben wir regionale Abkommen und unterstützen uns gegenseitig. Niemand wäre in der Lage, solche Notfälle alleine zu bewältigen. Stell dir vor. Ich könnte nicht mehr schlafen.“
Über die Familie
„Ohne meine Familie ginge das alles nicht. Meine Frau weiss so viel über das Dorf. Wenn ich unterwegs bin, nimmt sie Anrufe entgegen und kann vieles selber erledigen. Ich bin nicht allein. Auch auf dem Hof arbeiten wir alle zusammen. Ohne meine Familie wäre ich nicht der, der ich bin.“
Wie man trotz vollem Pensum Zeit für die Kunst findet
„Ich habe nicht jeden Tag Zeit zum Malen. Ich habe für das Dorf viel zu tun, und auf dem Hof auch. Aber im Herbst und Winter, wenn unsere Ziegen grösstenteils drinnen sind, habe ich etwas mehr freie Zeit. Dann kann es Perioden geben, in denen ich jeden Abend bis Mitternacht male.
Ich male hauptsächlich Details von Häusern und Ställen, Ziegen, Berge und Landschaften. Ich bekomme auch Aufträge. Zum Beispiel bekommt jeder Bewohner der Gemeinde Goms, der 90 Jahre alt wird, eines meiner Bilder geschenkt. Ab und zu habe ich Ausstellungen.
Als ich jung war, hätte ich gerne Kunst studiert, aber meine Eltern sagten, ich müsse nach dem Lehramt nun zuerst einmal Geld verdienen um das Darlehen für das Studium zurückzuzahlen. Ich habe es ihnen nicht übelgenommen, und ich konnte ja später einige Kurse an der Kunstschule in Zürich besuchen.“
Über Berge …
„Auf dem Matterhorn zu stehen … Ich kann es nicht beschreiben. Es fühlt sich an, als wäre man in einer heilen Welt, obwohl ich natürlich weiss, dass das nicht stimmt.
Ich trage das Bergvirus einfach in mir. Ich könnte ewig in den Bergen sein.“
… und Städte
„Ich habe kürzlich ein Wochenende in Zürich verbracht und ich war so glücklich, als ich wieder nachhause konnte (lacht). Man gewöhnt sich schon an das Leben auf dem Land. Ich könnte mir nicht vorstellen, in einem Hochhaus zu leben, in dem man seine Nachbarn nicht kennt.
Wir gehen aber jedes Jahr ein paar Tage nach Venedig, um Museen und Kunstausstellungen zu besuchen. Wir haben eine direkte Zugverbindung von Brig nach Venedig. Meistens mache ich während der ganzen Fahrt Skizzen.“
Über die Zukunft
„Ich mache mir keine Sorgen, dass ich ab nächstes Jahr zu viel Freizeit haben könnte. Ich werde viel mehr malen. Auch auf dem Hof gibt es immer noch genug zu tun – in den letzten Jahren haben wir zum Beispiel siebzig Bäume gepflanzt. Auch können wir dann einige Tage mehr Ferien machen.
Ich habe ein glückliches Leben. Ich konnte alles tun, was ich wollte.“